Dunkle Abgründe
Müll ist ein Zeichen von Zivilisation. Das gilt in zweierlei Hinsicht: Zum einen lässt sich an der Menge des Müllaufkommens der Grad unseres gesellschaftlichen Wohlstandes abmessen, zum anderen gibt die Charakterisierung des Mülls Aufschluss über das technische Knowhow einer Gesellschaft. Will heißen, je haltbarer der Müll desto höher der Fortschritt. Allein unser Plastikmüllaufkommen garantiert uns die Bewunderung tausender nachfolgender Generationen. Einfach herumliegen darf der Müll indes nicht. Würde dies doch sofort Assoziationen zu faulendem und stinkendem Unrat eines barbarischen Mittelalters wecken.
Denn der Wert strikter Sauberkeit ist in der zivilen Gesellschaft weit höher angesiedelt als die Müllproduktion. Die Maxime lautet: Wir haben den Müll, aber wir zeigen ihn nicht. Deshalb haben wir uns an abgelegenen Orten Deponien zur Lagerung unseres Wohlstandsmülls geschaffen.
Eine Besonderheit des technischen Fortschritts ist durch die Produktion radioaktiven Abfalls gegeben. Während das Trägermaterial dieser Müllspezies relativ unspektakulär wie gewöhnlicher Bauschutt daherkommt, ist es gerade das Unsichtbare, die radioaktive Strahlung, die ihm nicht nur den Glanz höchster wissenschaftlicher Kompetenz verleiht, sondern auch die Haltbarkeit von Babywindeln weit übertrifft. Doch so unsichtbar, geruchs- und geräuschfrei diese Strahlung auch ist, so sehr sie in ihrer scheinbaren Körperlosigkeit dem Anspruch größter Sauberkeit genügt, so gefährlich ist sie auch. Sie dringt in die Zellen der Lebewesen ein und macht sie krank, tötet sogar. Nur deshalb wurden diese Abfälle zu Müll deklariert, zu Atommüll, um genau zu sein. Und weil wir den Müll haben, aber ihn nicht zeigen, müssen diese strahlenden Stoffe, statt bewacht, tief unten in der Erde verschwinden, wo keiner sie finden soll. Doch irgendwann, wenn die Radioaktivität wieder zum Vorschein kommt und das wird sie, werden die nachfolgenden Generationen merken, dass wir unseren Pakt mit dem Teufel geschlossen hatten.
Antonia Uthe