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Tschernobyl

Literaturnobelpreis für eine Chronistin der Zukunft

(Fr., 11.12.15/UT) In diesem Jahr hat das Nobelpreis-Komitee den Nobelpreis für Literatur an die Weißrussin Swetlana Alexijewitsch, Autorin des Buches „Tschernobyl – eine Chronik der Zukunft“, verliehen. Zehn Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl war dieses Buch erschienen. Drei Jahre lang war Alexijewitsch unterwegs, hatte Betroffene aufgesucht und ihnen zugehört. In ihrem Roman fügen sich die Stimmen der Einzelnen, ihre Schicksale, zu einer ganz anderen, neuen Wahrheit zusammen, die nichts gemein hat, mit der allgemeinen Wahrheit, welche die Geschichtsschreibung um Tschernobyl längst geschaffen hatte.

Mit ihren Montagen von Einzelschicksalen, die Alexijewitsch zu Abbildern unserer Zeit verdichtet, hat die Autorin einen ganz neuen literarischen Ton geschaffen. Dennoch scheint die Wahl des Nobel- Komitees eher einem politischen Kalkül geschuldet, als der Anerkennung eines literarischen Gesamtwerkes. Weist sich Alexijewitsch doch mit ihrem jüngsten Buch „Secondhand-Zeit - Leben auf den Trümmern des Sozialismus“ als eine der schärfsten literarischen Kritikerinnen des weißrussischen Regimes und Russlands Präsident Wladimir Putin aus. Es wundert daher nicht, dass in den Medien nach Bekanntgabe der Preisträgerin niemand ihr Tschernobyl Buch erwähnte, zudem es auch nur noch antiquarisch zu erwerben war. Dabei wird es immer ihr eindrücklichstes Werk bleiben.

Aus den Gesprächen mit den Betroffenen wird der Autorin klar, dass die Katastrophe von Tschernobyl ein vollständiger Bruch mit unserer „alten Welt“ bedeutet.

„Nach Tschernobyl leben wir in einer anderen Welt, die frühere gibt es nicht mehr.
Etwas ist geschehen, wofür wir noch kein System von Vorstellungen, noch keine Analogien oder Erfahrungen haben, woran unsere Augen und Ohren noch nicht gewöhnt sind, wofür nicht einmal unser bisheriger Wortschatz unser ganzes inneres Instrumentarium ausreicht. Letzteres ist dazu da, zu sehen, zu hören oder zu berühren. Nichts von alledem ist möglich. Um hier etwas zu verstehen, muss der Mensch über die Grenzen seiner selbst hinausgehen. Eine neue Geschichte der Gefühle hat begonnen…“

So können Alexijewitschs Aufzeichnungen der Gespräche, die Schicksale der Betroffenen, für die Tschernobyl der Hauptinhalt ihrer ganzen Welt geworden ist, immer nur ein Herantasten an das Unsagbare sein. „Ich war unterwegs, ich habe mit Menschen gesprochen, habe Gespräche aufgezeichnet“, schreibt Swetlana Alexijewitsch im Vorwort ihres Tschernobyl-Buches. „Diese Menschen haben als erste gesehen, was wir nur erahnen, was für alle noch ein Geheimnis ist. Doch darüber sollen sie selbst berichten… Immer wieder schien mir, dass ich die Zukunft aufzeichne.“

Egal wie nun die Begründung des Nobelpreis-Komitees lautet, die Preisträgerin wird auch immer dafür stehen, uns die Katastrophe von Tschernobyl in ihrer ganzen Tragik vor Augen geführt zu haben. Eine Tragödie, die real ist und eine Umkehr ausschließt. Eine Tragödie, die sich jederzeit wiederholen kann, solange wir zulassen, dass weiterhin Atomstrom produziert und dass weiterhin fahrlässig mit Atommüll umgegangen wird.

Antonia Uthe