Der „Reference Man“ und seine ungeborenen Töchter
Normal ist, wenn alles seinen gewohnten Gang geht, wenn alle treu und redlich einen gesellschaftlich genormten Mittelweg einhalten. Wir sind ja nicht kleinlich, ein gewisser Toleranzbereich ist erlaubt. Statistiker und Qualitätskontrolleure nennen das Standardabweichung. Ausreißer werden in der Regel nicht beachtet, sie würden den Mittelwert verfälschen. Auf den Arbeitsbereich übertragen wird der „gewohnte Gang“ als Normalbetrieb bezeichnet. Das ist immer dann der Fall, wenn alles wie geschmiert läuft.
Wo gehobelt wird fallen auch Späne, das ist nicht weiter schlimm, denn sie lassen sich leicht wegfegen. Im Atomkraftwerke heißen die Späne Radionuklide. Sie fallen – oder besser entweichen – durch das Abwasser oder durch den Schornstein. Dazu nutzen sie jede Gelegenheit. Sie Bahnen sich ihren Weg durch defekte Ventile oder Haarrisse, die vermehrt auftreten, wenn ein Atommeiler in die Jahre kommt. Ein sehr beliebter Fluchttermin ist immer der Wechsel der Brennelemente. Die Radionuklide breiten sich über die Luft und das Wasser aus. Von dort lassen sie sich nicht so einfach wegfegen.
Besonders ausreißfreudig zeigt sich Tritium (radioaktiver Wasserstoff). Es verbindet sich sofort mit Sauerstoff zu „schwerem Wasser“ und gelangt durch die Nahrung und die Atemwege in den Körper. Dort nisten sich die strahlenden Moleküle wie Parasiten in die Zellen ein, verändern sie zu Krebszellen oder richten genetische Schäden an. Dazu reicht schon ein einziges Tritium-Molekül.
Um die Gefahr im Zaum zu halten, hat die Politik Vorsorge getroffen und im Atomgesetz ziemlich hohe Grenzwerte geschaffen, an die Qualitätskontrolleure sich halten können. Eine Schwachstelle hat das System dennoch: Die Werte orientieren sich an gesunden, jüngeren Männern, die einen regelmäßigen Lebenswandel pflegen, einer soliden Arbeit nachgehen ohne Stress und Schichtdienst. Ein solcher „Reference Man“ hat gute Chancen in einem gesegneten Alter eines normalen Todes zu sterben, sofern er sich, wenn er älter und schwächer wird, tunlichst aus der Reichweite des Atomkraftwerkes entfernt. Schwangere Frauen und Kinder haben in diesen Gegenden, die nur für „Reference Men“ gemacht sind, nichts verloren. Und da weibliche Embryonen sich bekanntlich als besonders anfällig erwiesen haben, stellt sich die Frage, ob in solchen Regionen überhaupt noch Mädchen geboren werden können.
Dennoch wir müssen uns keine Sorgen machen. Das gehört alles zum Normalbetrieb.
Antonia Uthe